Grippevirus trickst Abfallwesen aus

Für ihre eigene Vermehrung brauchen Viren die Zellmaschinerie. Wie die Erreger in Zellen eindringen, ist mittlerweile gut erforscht. Nur ungenügend bekannt ist hingegen, wie im Lauf der Infektion die Virenhülle geknackt wird, damit das Erbgut des Virus‘ freikommt. Ein Forschungsteam unter der Führung der ETH Zürich hat den Mechanismus nun beim Grippevirus aufgekl?rt – und dabei ?berraschendes zu Tage gef?rdert.

Vergr?sserte Ansicht: influenza-virus (Grafik: www.visualsciencecompany.com)
Das detaillierte Modell des Grippevirus verdeutlicht, wie das Kapsid (gelbgrüne Schicht) die Viren-RNA (orange-gelbe Str?nge) schützt. (Grafik: www.visualsciencecompany.com)

Die Infektion mit einem Virus l?uft stets nach einem ?hnlichen Schema ab. Der Erreger muss versuchen, in die Wirtszellen hineinzukommen, um deren Replikations- und Proteinbildungsmaschinerie für die eigene Vervielf?ltigung zu nutzen. Die erste Grenze, die ein Virus überwinden muss, ist die Zellmembran.

Dazu dockt das Virus auf der Oberfl?che an und signalisiert der Zelle, dass es in ihr Inneres aufgenommen werden will. Die Zelle schnürt in der Folge ein Bl?schen ab. Dieses enth?lt das Virus und transportiert es in Richtung Zellkern. Auf dieser Reise sorgt die Zelle dafür, dass die L?sung im Bl?schen immer saurer wird. Der saure pH-Wert erm?glicht schliesslich die Verschmelzung der ?usseren Virenhülle mit der Bl?schenmembran.

Kapsid als Knacknuss

Das ist aber erst die halbe Miete. Denn das Grippevirus wie auch andere RNA-Viren haben ein weiteres Hindernis zu überwinden, ehe ihr genetischer Code freikommt: Die wenigen RNA-Stücke, die das Genom des Grippevirus ausmachen, sind in einem sogenannten Kapsid verpackt. Dieses stellt w?hrend der ?bertragung von Zelle zu Zelle die Stabilit?t des Virus‘ sicher und schützt die Virusgene vor frühzeitigen Abbau.

Bisher hat man kaum verstanden, wie das Kapsid des Grippe-Virus‘ geknackt wird. Ein Team von Forschern der ETH Zürich, des Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research  in Basel und dem Biological Research Center in Szeged (Ungarn) hat nun eine Antwort auf diesen zentralen Aspekt der Grippeinfektion gefunden: Das Kapsid des Influenza-A-Virus‘ imitiert einen Kn?uel aus Proteinabf?llen, dem sogenannten Aggresom, das entwirrt und entsorgt werden soll. Dadurch get?uscht unterstützt der zelleigene Abfallbeseitigungskomplex das Knacken des Kapsids. Diese neue Erkenntnis wurde soeben in ?Science? ver?ffentlicht.

So tr?gt das Virus-Kapsid molekulare Abfallmarken der Zelle auf seiner Oberfl?che. Diese Abfallmarke namens Ubiquitin ruft ein Enzym auf den Plan, eine sogenannte Histon-Deacetylase (HDAC6), die an Ubiquitin bindet. HDAC6 bindet gleichzeitig Gerüst- und Motorproteine, die durch Zug den vermeintlichen ?Abfallkomplex? auseinander zerren und der Entsorgung zuführen. Durch diese mechanische Arbeit zerreisst das Kapsid, sodass das genetische Material des Virus‘ frei kommt. Dank ihrer geringen Gr?sse passen die RNS-Erbmoleküle durch die Poren des Zellkerns. Dort angelangt beginnt die Zelle, die Viren-Gene zu vervielf?ltigen und neue Virenproteine zu bauen.

Get?uschte Abfallentsorgung

Für die Forscher war dieser Mechanismus eine grosse ?berraschung. Das Abfallentsorgungssystem einer Zelle ist zentral, um Proteinabfall zu eliminieren. Kann die Zelle diese Müll-Eiweisse, die aufgrund von Hitze oder Stress entstehen, nicht schnell genug entsorgen, bildet der Abfall Aggregate. Um die Aggregate loszuwerden, mobilisiert die Zelle ihre Maschinerie, die Klumpen in Einzelteile zerlegt und abbaut. Genau diesen Mechanismus nützt das Grippevirus aus.

Vergr?sserte Ansicht: Das Schema zeigt, wie das Grippe-Virus in einem Bläschen in die Nähe des Zellkerns gelangt, mit Hilfe des Abfallsystems und der Bindung an das Enzym HDAC6 sein Kapsid (grüne Kügelchen) öffnen lässt und schliesslich seine Gene in den Zellkern (unten links) einschleust. (Grafik: aus Banerjee et al., 2014)
In einem Bl?schen (hellblau) gelangt das Virus nahe an den Zellkern (l. unten). Das Abfallsystem der Zelle hilft fatalerweise dem Pathogen, sein Kapsid zu ?ffnen (violette Kügelchen). (Grafik: aus Banerjee et al., 2014)

?berrascht waren die Forscher jedoch auch darüber, wie lange es dauert, bis sich das Kapsid ?ffnen l?sst: rund 30 Minuten. Die gesamte Infektionsdauer vom Andocken auf der Zelloberfl?che bis zum Eintritt der RNS in den Zellkern dauert zwei Stunden. ?Der Vorgang dauert l?nger und ist komplexer, als wir erwartet haben?, sagt Yohei Yamauchi, Postdoc bei ETH-Professor Ari Helenius, der HDAC6 aufspürte, und zwar mit einem Screeningverfahren von menschlichen Proteinen, die er daraufhin prüfte, ob das Virus sie braucht. Der Erstautor der Studie, Indranil Banerjee, best?tigte in seiner Folgestudie schliesslich, dass HDAC6 tats?chlich für die Kapsid?ffnung zentral ist.

Die endgültige Antwort erhielten die Forschenden dank eines Mausmodells. Fehlte einer Mauslinie das Protein HDAC6, so war die Grippeinfektion viel schw?cher: Den Grippeviren fehlte der zentrale Verankerungspunkt für die Anbindung an das Abfallentsorgungssystem. Dennoch ist das Fehlen von HDAC6 kein vollst?ndiger Schutz.

Anbindung von Abfallmarke verhindern

Mit ihrer Studie haben die Forscher um Biochemieprofessor Ari Helenius Neuland beschritten. Es gebe kaum Studien zu der Frage, wie ein tierisches Virus sein Kapsid ?ffne. Dabei sei dies einer der wichtigsten Schritte w?hrend einer Infektion, sagt der Virologe. ?Wir haben die Komplexit?t, die mit dem Auspacken des Kapsids einhergeht, allerdings untersch?tzt?, r?umt Helenius ein. Er selbst habe vor 20 Jahren darüber eine Arbeit geschrieben, das Thema aber nicht weiter verfolgt. Gelungen sei es nun, da man über neue systemische Ans?tze verfüge, um solche komplexe Systeme zu erforschen.

Ob sich die Erkenntnis therapeutisch nutzen l?sst, ist noch offen, da das Fehlen von HDAC6 die Infektion nur mildert, aber nicht ganz verhindert. Die bisher bekannten Hemmstoffe gegen HDAC6 zielen auf seine zwei aktiven Bereiche ab. Die Blockade der enzymatischen T?tigkeit hilft aber nicht, die Anbindung von HDAC6 an die Abfallmarke Ubiquitin zu verhindern. ?Da müsste man schon einen Stoff finden, der die Ubiquitin-Bindestelle blockiert?, sagt Yamauchi. Auf Grund der Struktur von HDAC6 scheint dies aber m?glich und solche weiterführende Experimente sind bereits geplant.

Rasche Mutationen erschweren Bek?mpfung

Damit zeigt sich auch eine grunds?tzliche Schwierigkeit der Virenbek?mpfung. Geschickt nützen sie viele für die Zelle essenzielle Lebensvorg?nge aus, so dass diese nicht einfach ausgeschaltet werden k?nnen. Tut man es trotzdem, drohen schwere Nebenwirkungen. Weiter mutieren Viren ?usserst schnell. Im Fall des Grippemittels Tamiflu half dem Influenza-Virus eine Mutation, um das Zielprotein für den Wirkstoff auf seiner Oberfl?che zu ver?ndern, und das Medikament wurde nutzlos.

M?glicherweise ist der nun gefundene Mechanismus universell. Andere Viren k?nnten ihn ebenso oder in ?hnlicher Weise einsetzen, um ihre Kapside zu ?ffnen und so Zellen effizient zu infizieren. Ari Helenius wird an diesem Thema allerdings nicht mehr weiter forschen: Er wird emeritiert und seine Gruppe an der ETH Zürich wird aufgel?st.

Literaturhinweis

Banerjee I, Miyake Y, Nobs SP, Schneider C, Horvath P, Kopf M, Matthias P, Helenius A, Yamauchi Y. Influenza A virus uses the aggresome processing machinery for host cell entry. Science, published online 24th October 2014. DOI: externe Seite10.1126/science.1257037

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